Rank und schlank oder breitbeinig?

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Peter Gwiasda
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Rank und schlank oder breitbeinig?

Beitrag von Peter Gwiasda »

Hallo Möbeldrechsler:innen,

in Coronazeiten sind Stubenhocker offensichtlich populär, alltagssprachlich weil die Menschen in ihren vier Wänden hocken, Straßen und Plätze meiden, tatsächlich weil ich noch nie so viele Hocker gedrechselt habe wie während dieser Pandemie; und noch nie zuvor begehrten so viele Holzfreunde in meiner Werkstatt Hocker drechseln zu dürfen. Natürlich geht es hier um Dreibeinhocker. Sie gehören zu den frühesten und damit ältesten Sitzmöbeln der Menschen. Sie bestehen nur aus vier Teilen, benötigen zur Fertigung nicht einmal eine Drechselbank, allenfalls einen einfachen Drillbohrer, ein Zieheisen für die Beine und eine Säge. Wir Drechsler sind natürlich anspruchsvoller: Wir benötigen eine stabile Drechselbank, eine ordentliche Ständerbohrmaschine und eine verstellbare Vorrichtung zum Bohren der Zapfenlöcher in definierten Winkel zur Sitzfläche. Und so sind wir beim eigentlichen Thema: Gibt es einen optimalen Ausstellwinkel für die drei Beine? Ja und nein.

Wer ganz sicher auf dem Hocker hocken möchte, wählt einen Winkel von 73 Grad zur Sitzfläche (auf dem Foto der rechte Hocker), wer nicht so breitbeinig erscheinen mag, begnügt sich mit 79 Grad. Eine noch schlankerer Anmutung ist bei einem durchschnittlichen Durchmesser von 30 bis 32 Zentimeter Sitzfläche riskant. Der gute Ruf des Dreibeiners als standfest wäre gefährdet. Die Standfestigkeit ist in gewisser Weise auch abhängig von der Sitzhöhe, wobei ich als guten Erfahrungswert 50 Zentimeter wähle.

Dreibeinhocker zählen zu meinen Lieblingsmöbeln. Sie beanspruchen wenig Platz, passen in jede Lücke, sind extrem leicht, verführen ungebetene Gäste nicht zum dauerhaften Sitzenbleiben, verbrauchen bei der Herstellung extrem wenig wertvolles Holz und können notfalls auch zur Selbstverteidigung genutzt werden.

Eine Bemerkung zur Produktion auf der Drechselbank: wir haben alle Freiheiten in der Gestaltung von Sitzfläche und der Beine, können uns aber keinen Pfusch leisten. Der Zapfen muss peinlich genau den Durchmesser des Zapfenloches bekommen, hier geht um Zehntelmillimeter. Jede Nachlässigkeit wird bestraft, entweder beim Einschlagen der Beine in die Sitzfläche oder weil trotz Leimung früher oder später der Hocker wackelt. Wer das Risiko scheut, kann das alte Keilprinzip nutzen, Wobei der Keil aus Hartholz stets im rechten Winkel zur Holzmaserung des Beins eingetrieben werden muss. Details dazu habe ich in der Dezemberausgabe 2010 von HolzWerken in Bild und Text ausführlich beschrieben ("Handfester Dreibeiner bekommt richtig Keile"). Bei Interesse hilft der Verlag Vincentz Network in Hannover.

So, liebe Stubenhocker, rein in die Werkstatt, Dreibeinhocker bauen.

Freundliche Grüße von Peter Gwiasda



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Mit dieser stufenlos verstellbaren Vorrichtigung (Gewindestange rechts) auf der Ständerbohrmaschine kann ich die gewünschten Ausstellwinkel bohren.
Justiert werden die Positionen der Zapfenlöcher mit unterschiedlich dicken Distanzhölzern.
Wie tröstlich, dass auch unsere Erde nicht wirklich rund ist.
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Kreuzthaler
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Re: Rank und schlank oder breitbeinig?

Beitrag von Kreuzthaler »

Guten Abend Peter,

einen schönen Text hast Du wieder mal geschrieben. Natürlich sind auch die "wenigfüßigen Sitzscheiben" gut gemacht. Bei so viel Lob kommt gleich noch ein Hinweis: Sitzhöhe für eine Bank oder einen Stuhl ist eigentlich 45cm. Gut, Du bist nicht ganz so groß, da kommst Du mit etwas mehr Sitzhöhe besser an die Tischplatte.

Auf dem Bild mit den Studenten, hätte Dir der 50er Hocker besser gestanden.

Fröhliche Grüße vom Kreuzthaler.

Das sind lauter 45er Sitzhöhen zum 74er Tisch:

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hera
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Re: Rank und schlank oder breitbeinig?

Beitrag von hera »

Bei mir sitzen die Beinchen in einer Konus Verbindung.
Erzeugt mit den Veritas Konusschneidern, die ich vor Jahren bei dictum gefunden habe.

Da wackelt nix, und sie irgendwie wachsen sie mit mir mit.
Vebindingssteifigkeit in Relation zur Körperfülle meine ich damit.
Das Leben ist zu kurz für schlechten Wein und stumpfes Werkzeug !
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Argus
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Re: Rank und schlank oder breitbeinig?

Beitrag von Argus »

Hallo Peter,

schöne Stubenhocker hast Du da geschaffen.
Der linke Hocker wirkt rein von der Optik nicht so stabil , sodass ich den rechten vom Bauchgefühl her vorziehen würde. Erstaunlich, das so was unbewusst in Gehirn von allein entstehen kann, ohne ihn zu kennen und schon mal drauf gesessen zu haben.
Ich habe aber noch eine andere Frage. Bei Deinen Hockern und auch schon bei anderen Sitzmöbeln, die ich gesehen habe, ist mir folgendes aufgefallen. Die Zapfenlöcher sind hier voll durch gebohrt, sodass man sie von oben sieht. Hingegen habe ich bei Tischen noch nie solche Zapfenlöcher von oben gesehen. Bauweise bei Tischen und Stühlen ist sicher unterschiedlich. So ein konischer Zapfen kann sich durch Belastung immer wieder festziehen, so macht ein Durchgangsloch Sinn. Aber würde das für Tische nicht auch zu treffen? Oder ist es hier nur der Optik wegen nicht gewollt?
Übrigens,
ich habe auch schon Dreibeinhocker gesehen, die keine von oben sichtbaren Zapfenlöcher hatten, dort waren unter der Sitzfläche Leisten aufgedoppelt. In diese waren die Zapfenlöcher eingelassen.

Gruß Frank
"..Es ist von großem Vorteil, die Fehler, aus denen man lernen kann, recht frühzeitig zu machen.."

Sir Winston Churchill, britischer Politiker und Schriftsteller
* 30.11.1874, † 24.01.1965
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Bernd Schröder
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Re: Rank und schlank oder breitbeinig?

Beitrag von Bernd Schröder »

Moin!
Ja, derart Hocker und Möbel sind schon faszinierend.
Die Einfachheit macht sie besonders und lässt das Holz in den Vordergrund treten.
Handwerklich gibt es viele Lösungen...
...so hab ich auch meine: viewtopic.php?f=32&t=60266&hilit=Hocker

Beim Anstellwinkel der Beine bin ich der Meinung, daß die schlanke Ausführung schöner aussieht.
Natürlich kippt der dann auch leichter.
Rechnerisch ist es so, daß der Durchmesser der Hockerplatte kleiner sein muss, als der Durchmesser
der Kreisfläche, die durch die Standpunkte umschrieben wird.
Das ist mir zu breitbeinig.

Also mache ich einen Kompromiss.
12 Grad sind für mich schön und standfest.
Mit besten Grüßen aus der Heide!
Bernd
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