Drechseln - Philosophie mit spanabhebenden Werkzeugen?

[snakyjoe]

Warum drechsle ich eigentlich?
Liebe Freunde des Drechselns,
ich werde bald 59 und habe seit meinem 18. Lebensjahr immer Berufe ausgeübt, die geistig herausfordernd, mit hoher Belastung und Termindruck verbunden waren. Obwohl ich mich in all den 40 Berufsjahren stets weiterbilden und entwickeln konnte, obwohl ich auch Anerkennung erhielt und oft mit dem Gefühl der Zufriedenheit den Arbeitsplatz verließ, fehlte mir immer etwas. Als IT-Administrator ist man Dienstleister für Nutzer, man löst Soft- und Hardwareprobleme, man hält ein System am Laufen. Aber all das spielt sich auf digitaler, nicht fassbarer Ebene ab. Die Unsichtbarkeit des Arbeitsergebnisses war teilweise frustrierend.
Was mir also stets spürbar fehlte, war die Früchte meiner Arbeit greifbar zu machen, das Geschaffene auch mal der Partnerin oder anderen Menschen zeigen und mit ihnen diskutieren zu können.
Darüber hinaus störte mich die allgegenwärtige Verschwendung von Ressourcen, der Konsumwahn mit all seinen Begleiterscheinungen wie eingebaute Obsoleszenz, neu kaufen statt reparieren sowie der generell achtlose Umgang mit Material / Ressourcen.
So reifte der Gedanke, ein handwerklich anspruchsvolles Hobby zu suchen, das nicht nur die freien Stunden des Tages sondern auch die Seele füllen kann, eine Beschäftigung, bei der ich aus nicht genutztem, frei verfügbarem oder dem Verfall preisgegebenen Material etwas Bleibendes schaffen kann.
Probiert hatte ich bis dato vieles, manches blieb ein Strohfeuer, von anderen Hobbys behielt ich zumindest die Erfahrung und etwas Werkzeug.

Im November 2019 kam – angeregt durch einen Marktstand und das Drechsler Forum - eine Drechselbank ins Haus; zunächst eine kleine Tischbank.
Sehr bald stellte ich fest, dass sich neben kleinen Erfolgen auch große Misserfolge einstellen. Holz ist ein lebendiger, gewachsener Werkstoff, der einen eigenen Charakter und eben auch Macken besitzt.
Holz kann reißen und sogar fliegen!
Aber die alte Weisheit, dass Übung den Meister macht, bewahrheitete sich bald. Vom Meister bin ich so weit entfernt, dass ich bezweifle, in meiner verbleibenden Lebenszeit einer zu werden. Aber zu ein paar Gesellenstücken sollte es reichen. Und der Mensch braucht Ziele!
Auch die Erkenntnis, dass ich zwar gute Arbeit machen will, mich jedoch nicht jeden Berg hinauf peitschen muss, ist wertvoll. Es gibt kunstvolle Drechselobjekte, die ich bewundern aber sicher nie selbst herstellen werde, aber das ist in Ordnung. Man lernt, eigene Grenzen zu akzeptieren.

Das Drechslerforum nahm mich rücksichtsvoll und hilfsbereit in die Arme; bald knüpfte ich erste persönliche Kontakte und aus Fehlern wurden Kritiken und daraus wiederrum Schlussfolgerungen. Inzwischen arbeitet eine große Drechselmaschine in meiner neuen Werkstatt, der Holzvorrat wächst und nicht selten stehe ich abends bis zu Knien in Spänen.
Endlich hat das Wort „befassen“ in Bezug auf mein Hobby wahre Aussagekraft. Was auf der Maschine entsteht, kann man anfassen und ins Haus tragen. Zudem beansprucht das Drechseln all meine Sinne: Holz duftet oder es stinkt, es sieht anfangs roh und später schön aus, es schrumpft und verändert sich, es ist rauh oder glatt, kühl oder heiß, Holz singt unter der Schalenröhre, es beschäftigt Nase und Ohren, ja, es schmeichelt den Augen und den Händen. Die Späne (und manches verunglückte Stück auch) heizen meinem Werkstattofen. Holz wärmt Räume und Herzen.

Außerdem hat das Drechseln meine Einstellung zu verschiedenen Bereichen des Lebens verändert.
Manch wünschenswerte Eigenschaft wurde unter dem hektisch wachsenden Berg von Alltagsschutt begraben, andere lerne ich nun neu oder erneut.
Geduld zum Beispiel:
Auf gutes Drechselholz muss man warten können. Eine Schale wird nicht an einem Tag fertig. Mehrere Schichten der Oberflächenbehandlung brauchen Trocknungszeit. Am Ende braucht man Geduld, bis das gedrechselte Stück den richtigen Besitzer finden konnte. Entschleunigung ist (anders als die Gesellschaft uns glauben machen will) kein Zeichen von Faulheit, sondern eine Tugend.

Oder Aufmerksamkeit:
Ich nehme meine Mitmenschen und mein Umfeld wieder interessierter wahr. Was denkt oder fühlt mein Gegenüber? Womit könnte ich ihn überraschen oder ihm eine Freude machen? Was schaffen andere kreative Menschen? Oder, wo liegt Holz herum, das dem Verderben anheimfallen wird, wenn man es nicht rettet? Welche Formgebung der Natur kann mir als Inspiration für eine Drechselaufgabe dienen? Welcher Körper steckt in einem rohen Klotz?

Und dann wäre da noch Toleranz:
So vielfältig wie das Angebot an Drechselhölzern, so verschieden sind die Ansichten darüber, was schön oder erstrebenswert ist. Des einen Uhl ist des anderen Nachtigall. Beim Drechseln lerne ich auch wieder, die Objekte aus dem Blickwinkel oder mit der individuellen Erfahrung eines anderen zu sehen, die Meinung des Nächsten zu respektieren. Meinungsvielfalt erweitert den Horizont.

Last but not least zähle ich hier die Demut auf:
In der heutigen Gesellschaft zählt nur Erfolg (mit oder ohne dahinter stehender Leistung):
Nicht jeder Weg beim Drechseln führt zum Erfolg. Auch die fast gereiften Früchte größter Anstrengung fallen manchmal im letzten Stadium der Fertigung Murphys Gesetz zum Opfer. Man lernt, Misserfolge zu ertragen.

Mein Resümee ist so einfach wie komplex. Drechseln verknüpft in mir Ansprüche mit Bescheidenheit, Neugier mit Befriedigung, Erholung mit Arbeit und Selbstzweifel mit Anerkennung. Nach außen vernetzt es mich enger mit der Natur und vielen Menschen, die neu in mein Leben getreten sind.
Ich vermute, nicht der Einzige zu sein, der so denkt.
Viele Grüße
Egbert

[Stefan218]

Moin Egbert,

sehr schön geschrieben!

Und deine Ausführungen bringen vieles auf den Punkt.

Gruß
Stefan

[DonRedhorse]

Moin, Egbert,

so wie Du arbeite ich in der IT. Auch ich brauche etwas zum Ausgleich zu meinem Bürojob. Neben den "normalen" Holzwerken und den Arbeiten rund ums Haus habe ich auch das Drechseln für mich entdeckt. Leider bin ich dieses Jahr nicht all zu viel dazu gekommen, weil ich meine Werkstatt erweitert habe und das meist nur am Wochenende bewerkstelligen konnte. Nun ist sie soweit fertig und ich kann wieder loslegen und üben. Ich stimme Dir in allen Punkten, die Du aufgeführt hast, voll und ganz zu. Vielen Dank für diesen tollen Beitrag.

Gruß Rudi

[GentleTurn]

Ich vermute, nicht der Einzige zu sein, der so denkt.
Viele Grüße
Egbert

Moin.
Mit Sicherheit nicht, Egbert, mit Sicherheit nicht. In vielen von Dir geschriebenen Punkten finde ich mich wieder.

[Otti]

Servus Egbert,

an dir ist ein begnadeter Philosoph verloren gegangen.
Den heutigen Ist-Zustand der Menschheit hast du perfekt beschrieben.
Ich wünsche dir die Erfüllung all deiner Pläne.

LG Otti

[wolfgangsiegel]

Nicht jeder Weg beim Drechseln führt zum Erfolg

hast Du mich beobachtet, oder woher weißt Du das ?

Ja - stimmt.

Und beim Drechseln finde ich (wie oft beim Arbeiten mit Materialien) dass schon der Weg einfach Spaß macht. Man hat Freude, noch bevor das Werkstück fertig ist.
Ähnlich, wie es beim Töpfern immer so elegant aussieht (ich kann leider bis heute nicht mit Ton "Scheiben-Drehen", möchte es aber noch lernen), ist es einfach eine Freude, wenn das Holz auf so einfache Weise dem Werkzeug "folgt" und sich "bewegt".

Die gefallen mir, Deine Gedanken

[Holzmomente]

Hallo Egbert,

das hast du sehr gut geschrieben und ich teile vieles von dem was du geschrieben hast. Was mich allerdings viel mehr interessiert ist, was ist der Grund weshalb du es geschrieben hast? Ansonsten finde ich es gut, wenn man mal in dieser schnellen Zeit den Moment findet einmal anzuhalten und auszusteigen bzw. mal aus dem Fenster zu schauen.

Bleibt alle Gesund und weiterhin viel "Erfolg" beim drechseln, wie auch immer Ihr Erfolg definiert.


GRuß Jürgen

[drechsler57]

Hallo

Ich bin zwar nur gelernter Drechslermeister, aber mit Spanabhebend ist es wenig treffend beschrieben.
Wenn man drechseln kann ist es ein reiner Scheidevorgang, auch mit Metalldrehen überhaupt nicht verwandt.
Das versteht man aber auch erst , wenn es kann.

Danke

drechsler57

[drechselede]

Guten Tag Egbert,
aus tiefen Herzen ein Dank für diesen Bericht.
Edgar

[louisclou]

Moin Egbert,
du schreibst mir aus der Seele, sehr schöne Betrachtungsweise. Auch für mich ist das Drechseln teils richtig meditativ.
Ich freue mich immer wieder, wenn es Menschen gibt, welche einen tieferen Sinn zu leben verstehen. Danke
Liebe Grüße aus Ostfriesland,
Detlef

[Nord_holzwurm]

Hallo Egbert, ich bin schon 59 und schließe mich Edgar an. für Deinen Bericht.

Gruß Thomas

[Erick]

Hallo Egbert
Vielen Dank für diesen Beitrag !
Gruß Erick

[henry]

Wuste gar nicht das IT ler so Philosophisch denken, ich hatte immer gedacht die kennen nur Bits und Bytes.
Toller Text , spricht mir voll aus der Seele.
Das Holz und das Arbeiten damit glücklicht macht steht schon lange fest. Drum sagt auch das Schreiner Handwerk:
Nur Schreiner machen Frauen glücklich.

Gruss vom anderen Ende der Republik
Henry

[da_Joe]

Wuste gar nicht das IT ler so Philosophisch denken, ich hatte immer gedacht die kennen nur Bits und Bytes.

Vorsicht!

Nach meiner Einschätzung sind die Computer-Heinis hier ganz und gar net selten.

Ich gehör selber auch dazu. Zwar nicht IT Bereich, aber dafür ein richtiger Bit-Schupser.

.... und ja, mir geht es sehr sehr ähnlich.

Grüsse
Joe

[Holzpeter]

Großartig geschrieben Egbert



Hölzerne Grüße
Peter

[snakyjoe]

für die vielen freundlichen Kommentare. Trotz des "artfremden" Themas gibt es Leser. Da stehe ich nicht allein mit meinen Gedanken. Liebe Grüße von Egbert

[Hölzerkarl]

Hallo Egbert,
du hast alles treffsicher und nachvollziehbar geschildert.

In einigen Bereichen finde ich mich wieder.
Nach 46 Berufsjahren bin ich bei den Rundmachern gelandet.
Besonders freue ich mich darüber, dass ich so viele tolle Menschen kennengelernt habe.

Danke für deinen Beitrag und Gruß aus dem Hessenland

Der Karl

[Schnecke]

Hallo Egbert,

Dein Beitrag ist "etwas ungewöhnlich" und "überrascht" ein wenig...


aber:


ich finde diesen Beitrag äußest interessant:

- Man muß sich mehr Zeit nehmen, als bei anderen Beiträgen, um ihn zu lesen...

- er hat keine Bilder...

- er regt zum Nachdenken an...

- Du hast das niedergeschrieben, was so manchem von uns ebenfalls durch den Kopf geht...


Ich sage einfach nur DANKE für diesen Beitrag!

Schöne Grüße

Christian

[Orti]

Ich bin jetzt zwar kein IT'ler, und konnte auch bisher die früchte meines tuns doch oft greifbar haben.

Den Rest deines Beitrags unterschreibe ich dir aber sofort.

Gruß
Thomas

[BB1]

Für mich ist es auch Balsam für die Seele.

Danke für Deinen schönen Beitrag.

[Hans]

Hallo Egbert

Da hast du mal ein Faß ausgemacht.

In deinem Bericht werden sich viele wieder finden.

Von Anfang an sehr stimmig.

Eines der besten Berichte was ich seit Jahren gelesen habe.

Und ja, Holz kann auch fliegen.



Und ja, dein Holz kommt mit der Post


Gruß


Hans

[Peter Gwiasda]

Hallo Egbert,

dein Beitrag trifft den Kern. Er ermuntert mich, mich selbst mit drei Sätzen zu zitieren, die ich für das Buch zum Drechslertreffen 2017 in Olbernhau geschrieben habe:

"Drechseln ist Stressabbau in der kreativsten Form. Hirn, Auge und Hand kommunizieren dabei permanent miteinander. Diese hochkonzentrierte Interaktion erfasst uns Drechsler total - und vertreibt den hässlichen und ungesunden Alltagsstress. Krankenkassen wären gut beraten, Drechselkurse als Therapie in Fällen von Burnout großzügig zu fördern".

Drechseln ist gesund.

Grüße von Peter Gwiasda

[dalbergia_63]

Hallo Egbert,

vielen Dank für Deine sehr persönlichen Reflektionen. Ich denke Du hast den Nerv unseres gemeinsamen "Antriebes" auf den Punkt gebracht.

Da fällt mir wieder der Titel eines Buches ein, an dem ich auch involviert war:

"Die Hand formt mit dem Kopf"

Vielen Dank für Deine Einblicke

Heinz

[hplzwurm]

Hallo Egbert,

Ein wunderschöner Artikel, mir geht es genauso. Als Musiker übst Du spielst irgendwann und dann ist das Ergebnis gehört und verflogen.
Genau deshalb habe ich zunächst mit dem Schreinern begonnen und irgendwann ist durch einen Weihnachtsmarkt das Drechseln dazu gekommen.
Ja, und viele nette Menschen habe ich hier auch kennengelernt und genieße auch aus diesem Grund dieses Forum.

[snakyjoe]

....Drechseln ist gesund.
Grüße von Peter Gwiasda

Hallo Peter,
du hast meinen etwas lang geratenen Artikel in einem kurzen Satz erfasst. Dein Zitat aus 2017 spricht auch mit Liebe vom Drechseln, und die Krankenkassen täten gut daran, deinem Vorschlag zu folgen. Besonders in einer Welt in der bereits Grundschüler wegen Burnout behandelt werden müssen.

Mein Dank richtet sich auch an alle anderen, die auf meinen Beitrag reagiert haben. Ich habe all eure Antworten sorgsam gelesen und bin einigermaßen erstaunt, dass es so viel Dank und Zustimmung gab.
Besondere Freude macht mir, mich in einer großen Familie zu wissen, die dem Drechseln mehr abgewinnen, als nur Holz rund zu machen.
Nun hör ich aber auf, meinen eigenen Artikel immer wieder hochzuschieben und räume den vielen anderen Beiträgen den gebührenden Platz im Forum ein.
Euch allen alles Gute, gut Spahn! (nicht der Jens)
Egbert